Nach dem Buch „Triumphs of Experience: The Men of the Harvard Grant Study“, George E. Vaillant

1938 wurde eine lebenslange Langzeitstudie mit 267 männlichen Studenten des Harvard College begonnen, die von Personalvermittlern als aller Wahrscheinlichkeit nach erfolgreiche Menschen eingestuft wurden. Die Studie wurde von dem Philanthropen William T. Grant finanziert. Heute ist diese Studie die längste Längsschnittstudie, die weltweit durchgeführt wurde. Die Studie ist heute noch nicht abgeschlossen.

Schlüsselfaktoren für ein glückliches und gesundes Leben

Ziel der Studie war es, die Schlüsselfaktoren für ein glückliches und gesundes Leben zu identifizieren. Dazu wurden medizinische Aufzeichnungen, periodische Interviews und Fragebögen, Informationen über Karriere, Beziehungen und geistiges Wohlbefinden ausgewertet. Bei den Teilnehmern der Studie wurden Freude an der Arbeit, an der Liebe und im Spiel gemessen; weiter wurden Messwerte für die Tiefe und Breite des sozialen Engagements, die Qualität in der Ehe und die Beziehung zu den Kindern und viele weitere Kriterien erfasst. Die meisten Erkenntnisse gewannen die Studienleiter aus Interviews.

Lebensgeschichte von Godfrey Minot Camille

Der im Jahr 1938 damals 19 Jahre alte und rothaarige Godfrey Minot Camille ist heute einer der erfolgreichsten überlebenden Männer dieser Studie geworden. Und das, obwohl der anfangs „normale“ Camille 10 Jahre nach Beginn der Studie als widerspenstiger und unglücklicher Hypochonder mit den allerschlechtesten Aussichten auf Erfolg von den Leitern der Studie eingestuft worden war. Was hat diesen – damals bedauernswerten – Menschen am Ende doch wachsen und gedeihen lassen? Dieser Frage ist der heutige Leiter der Studie, der Arzt George E. Vaillant, in seinem Buch „Triumphs of Experience: The Men of the Harvard Grant Study“ nachgegangen.

Die eine Antwort hat der antike Schriftsteller Vergil schon vor über 2000 Jahren in die drei Worte gefasst: Amor vincit omnia – Liebe besiegt alles. Doch mit Liebe hatte der junge Camille keine wirkliche Erfahrung. Die andere Antwort ist, dass Menschen sich wirklich zu ihrem Vorteil verändern können.

Camille‘s Eltern gehörten zur Oberklasse, sie waren aber sozial isoliert und krankhaft misstrauisch. Ein Kinderpsychiater, der die Kindheit von Camille 30 Jahre später revidierte, stufte die Kindheit von Camille als eine der düstersten in der gesamten Studie ein.

Als ungeliebtes Kind und als Student noch ohne autonome Persönlichkeit suchte er als Teil seines unreifen Bewältigungsverhaltens unbewusst häufig die Krankenstation im College auf. Dort wurden in den allermeisten Fällen keine medizinisch diagnostizierbaren Symptome festgestellt. Ein in aller Regel sympathischer College Arzt entließ ihn bei einem seiner Besuche empört mit den Worten: „Der Junge wird ein Psychoneurotiker.“ Seine permanenten Beschwerden schufen eine gewisse Distanz zu seinen Kollegen und verärgerten sie, weil sie sich von ihm offensichtlich und in egoistischer Art manipuliert fühlten.

Nach Abschluss seines Medizinstudiums beging der frisch gebackene Dr. med. einen Selbstmordversuch. 1948 war der Konsens der Wissenschaftler in der Studie der, dass er für die medizinische Praxis nicht geeignet war. Ungeliebt, wie er sich fühlte, war er von den Bedürfnissen von Menschen im medizinischen Praxisalltag überwältigt. In mehreren Sitzungen mit einem Psychiater gewann er eine andere Perspektive auf sich selbst. Er hatte danach schriftlich für die Studie niedergelegt, dass sich seine Hypochondrie aufgelöst hatte; sie sei eine Entschuldigung und selbstverschuldete Strafe für seine aggressiven Impulse gewesen.

Schwere Krankheit und ihre Folgen

Im Alter von 35 Jahren hatte er eine lebensverändernde Erfahrung. Er war 14 Monate wegen Lungentuberkulose im Krankenhaus. Zehn Jahre später erinnerte er daran, sein erster Gedanke bei der Einweisung ins Krankenhaus war: „Es ist ordentlich; ich kann ein Jahr lang zu Bett gehen und machen, wann ich will und damit ungestraft davonkommen.“

„Ich war froh, krank zu sein“, gestand er. Seine Krankheit, eine tatsächliche, gab ihm schließlich die emotionale Sicherheit, die ihm seine Kindheit – zusammen mit den hypochondrischen Symptomen und gefolgt von pingeliger Neutralität allem gegenüber – nie hatte geben können. Camille erlebte seine Zeit im Krankenhaus fast wie eine religiöse Wiederbelebung. „Jemand mit einem großen „S“ kümmerte sich um mich“, schrieb er. „Nichts war jemals so anstrengend wie dieses Jahr in der Kiste gewesen.“

Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus ließ sich Dr. Camille als Arzt in einer Praxis nieder, heiratete und entwickelte sich zu einem verantwortungsvoller Vater und Klinikchef. Seine Art, das Leben zu bewältigen, änderte sich mit jedem Jahrzehnt. Hatte er sich früher als Bewältigungsmechanismus auf Verdrängung (unbewusste Vermeidung emotionaler Nähe) verlassen, vertraute er zunehmend auf Einfühlungsvermögen als unbeabsichtigten Bewältigungsmechanismus und damit verbunden Uneigennützigkeit und Produktivität. Er funktionierte nun wie ein großzügiger Erwachsener. Während er als 30jähriger noch seine abhängigen Patienten hasste, war seine erwachsene Vorstellung von Mitgefühl für andere schon Wirklichkeit geworden. In lebendigem Kontrast zu seiner Panik nach seinem Studienabschluss schrieb er nun, was er am meisten an der Medizin mochte: „Ich hatte Probleme und holte mir Rat, und nun erfreue ich mich daran, wenn andere bei mir Rat suchen.“

Fortsetzung folgt!